Sie sind hier:

29.11.2022 - Rechtsverletzung durch überlange Organisationshaft und Voraussetzungen für eine Haftentlassung aufgrund dieser Verfahrungsverzögerung

Datum der Entscheidung
29.11.2022
Aktenzeichen
1 Ws 136/22
Normen
GG Art. 2 Abs. 2 S. 2; StGB § 67 Abs. 1, § 67 Abs. 2, § 67c Abs. 1; StPO § 458, § 473 Abs. 4
Rechtsgebiet
Strafprozessrecht
Schlagworte
Strafprozessrecht, Strafvollstreckung, Beschleunigungsgebot, Organisationshaft, Vorwegvollzug, Vollstreckungsreihenfolge
Titel der Entscheidung

Warning: preg_replace(): Unknown modifier '.' in /srv/nfs-share/data/sixcms/oberlandesgericht/sixcms_upload/templates/template472.php on line 45
Rechtsverletzung durch überlange Organisationshaft und Voraussetzungen für eine Haftentlassung aufgrund dieser Verfahrungsverzögerung (180.6 KB)
Leitsatz

1. Der Vollzug von Organisationshaft als gesetzlich nicht gesondert geregelter Form des Strafvollzugs zur Vorbereitung des Vollzugs einer angeordneten Maßregel kann nur in engen Grenzen gerechtfertigt sein und unterliegt dem Gebot größtmöglicher Beschleunigung.

2. Den Staat trifft eine Verpflichtung, eine dem Bedarf entsprechende Kapazität an Behandlungsplätzen im Maßregelvollzug vorzuhalten; dieser Pflicht wird nicht genügt, wenn die Verfügbarkeit von Aufnahmeplätzen generell von Erfordernissen einer Wartezeit in der Organisationshaft abhängig gemacht wird.

3. Besondere Anforderungen an die Beschleunigung des Vollzugs von Organisationshaft sind zu beachten im Fall eines nach § 67 Abs. 2 StGB angeordneten Vorwegvollzugs der Freiheitsstrafe. Geeignete Bemühungen um das Finden eines Platzes im Maßregelvollzug sind bereits rechtzeitig vor dem Ablauf der Zeitdauer des angeordneten Vorwegvollzugs zu unternehmen, um sodann eine unverzügliche Aufnahme des Verurteilten in den Maßregelvollzug zu sichern. Vor der Einleitung solcher organisatorischen Maßnahmen ist nicht erst die gerichtliche Entscheidung nach § 67c Abs. 1 Nr. 1 StGB abzuwarten.

4. Der Verurteilte wird durch eine verzögerte Sachbehandlung während des Vollzugs der Organisationshaft, insbesondere, wenn sich diese in einer überlangen Dauer der Haft auswirkt, in seinem Freiheitsgrundrecht verletzt. Ob dies zu einer Entlassung aus der Haft führt, hängt von einer Abwägung insbesondere mit den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit ab.

5. Maßgeblich kommt es für diese Abwägung einerseits auf die Gefährlichkeit des Verurteilten und die dadurch tangierten Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit an, andererseits auf Ausmaß und Intensität der Rechtsgutsverletzung durch die verzögerte Sachbehandlung und überlange Dauer der Organisationshaft.

6. Der Umstand einer tatsächlichen Begrenzung der vorhandenen Kapazitäten im Maßregelvollzug ist kein in die Abwägung einzustellender Umstand: Der Staat hat die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um eine Verletzung des Freiheitsgrundrechts des Verurteilten durch eine Verzögerung der Aufnahme in den Maßregelvollzug zu vermeiden, auch wenn diese Rechtsverletzung im konkreten Einzelfall nach Abwägung gegen die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit noch nicht die Freilassung des Verurteilten erfordern sollte.