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24.04.2019 - Zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen

Datum der Entscheidung
24.04.2019
Aktenzeichen
1 Ws 44/19
Normen
StPO §§ 112 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 Nr. 2, 116
Rechtsgebiet
Strafprozessrecht
Schlagworte
Strafprozessrecht, Untersuchungshaft, Verhältnismäßigkeit, Beschleunigungsgebot, Terminsdichte, Erkrankung von Verfahrensbeteiligten
Titel der Entscheidung

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Zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen (184.6 KB)
Leitsatz
1. Die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft ist grundsätzlich nach der Dauer der Strafe zu beurteilen, die der Angeklagte mutmaßlich zu verbüßen haben wird. Gleichzeitig sind im Rahmen der von den Gerichten vorzunehmenden Abwägung für die Aufrechterhaltung einer Haft auch Kriterien wie die Komplexität der einzelnen Rechtssache, die Vielzahl der beteiligten Personen und das Verhalten der Verteidigung von Bedeutung.

2. Mit zunehmender Dauer der Freiheitsentziehung vergrößern sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs und die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache (Beschleunigungsgebot als besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes).

3. Das Beschleunigungsgebot findet ungeachtet der geringeren Eingriffswirkung auch dann Anwendung, wenn ein Untersuchungshaftbefehl wegen Strafhaft in anderer Sache nicht vollzogen wird und lediglich Überhaft vermerkt ist.

4. Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verlangt eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche.

5. Bei der Berechnung der durchschnittlichen Terminsdichte sind sich in einem angemessenen Rahmen haltende Unterbrechungszeiten etwa zum Zweck des Erholungsurlaubs der Verfahrensbeteiligten oder auch zum Zweck des Antritts einer Kur herauszurechnen.

6. Ein Unterschreiten dieser Terminsdichte kann nur aus besonderen Gründen gerechtfertigt sein, die ihre Ursache allein in dem konkreten Strafverfahren haben, und kann nicht etwa allein mit einer Komplexität des Verfahrens oder besonders schwerwiegenden Tatvorwürfen begründet werden.

7. Das Beschleunigungsgebot kann auch dadurch verletzt werden, dass an den jeweiligen Sitzungstagen nur kurze, den Sitzungstag nicht ausschöpfende Zeit verhandelt und das Verfahren dadurch nicht entscheidend gefördert wird.

8. Kommt in einer zu kurzen Dauer von Verhandlungstagen das generelle Fehlen eines Bemühens um eine effiziente Ladung von Beteiligten und um die Festlegung eines straffen Verhandlungsplans zum Ausdruck, so kann dies eine Verletzung des Beschleunigungsgebots begründen. Dagegen begründet es keine Verletzung des Beschleunigungsgebotes, wenn lediglich einzelne Sitzungstage früher als erwartet zu beenden waren, z.B. bei einer früher als erwartet erfolgenden Entlassung von Zeugen.

9. Insgesamt ist unter dem Aspekt des Beschleunigungsgrundsatzes eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich, bei der auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung zu würdigen sind.

10. Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann eine Verzögerung nicht rechtfertigen, dies auch dann nicht, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt. Anderes gilt – auch im Hinblick auf ein Unterschreiten der gebotenen Terminsdichte – bei einer erst im Verlauf des konkreten Verfahrens unvorhersehbar eingetretenen und auch bei Ergreifen ausreichender Abhilfemaßnahmen unvermeidbaren Überlastung des Spruchkörpers.

11. Auch Erkrankungen von Verfahrensbeteiligten als schicksalhafte Ereignisse können die Fortdauer einer Untersuchungshaft trotz objektiv feststehender Verzögerung rechtfertigen.

12. Bei kleineren Verfahrensverzögerungen kann die Fortdauer der Untersuchungshaft noch durch das Gewicht der zu ahndenden Straftat gerechtfertigt werden, nicht aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen und einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft. Maßgeblich kommt es für diese Unterscheidung nicht auf die Dauer der einzelnen Verzögerung an, sondern auf die vorliegenden Verfahrensverzögerungen in ihrer Gesamtheit.