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20.05.2016 - Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen wenn später als sechs Monate nach dem Eingang der Anklage mit der Hauptverhandlung begonnen werden soll; Voraussetzungen der Überlastung des Gerichts als wichtiger Grund zur Aufrechterhaltung der Untersuc

Datum der Entscheidung
20.05.2016
Aktenzeichen
1 HES 2/16, 1 HES 3/16
Normen
GG Art. 2 Abs. 2, 20 Abs. 3 GG; EMRK 5 Abs. 3; StPO § 121 Abs. 1
Rechtsgebiet
Strafrecht und Ordnungswidrigkeiten
Schlagworte
Strafprozessrecht, Beschleunigungsgebot, Untersuchungshaft, Haftprüfung, Beginn der Hauptverhandlung, Überlastung des Gerichts
Leitsatz
1. Der Rechtsstaat erfordert eine funktionstüchtige Strafrechtspflege. Dazu reicht es nicht aus, den staatlichen Strafanspruch überhaupt durchzusetzen. Zu geschehen hat dieses innerhalb so kurzer Zeit, dass die Rechtsgemeinschaft die Strafe noch als Reaktion auf geschehenes Unrecht wahrnimmt.

2. Das Beschleunigungsgebot gehört zu den grundlegenden Verfahrensmaximen von Strafverfahren. Es erfordert eine zeitnahe und straffe Erledigung dieser Verfahren auch dann, wenn sich die Angeklagten nicht in Haft befinden.

3. In Haftsachen ist der Beschleunigungsgrundsatz verletzt, wenn erst sechs Monate nach dem Eingang der Anklage mit der Hauptverhandlung begonnen wird. Dies gilt auch dann, wenn die ursprüngliche Anklage nach Beanstandungen durch die Kammer zurückgenommen und in veränderter Form neu erhoben wird.

4. Die Überlastung des Gerichts rechtfertigt als wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nur dann, wenn sie kurzfristig eingetreten ist und weder vorhersehbar noch vermeidbar war. Dies setzt notwendig voraus, dass der Staat seine in der Verfassung verankerte Pflicht vorausschauend erfüllt, die Gerichte derart mit Personal auszustatten, dass sie auch tatsächlich in der Lage sind, dem Gebot der Beschleunigung von Strafsachen durch eine zeitnahe Verhandlung und eine ausreichend hohe Verhandlungsdichte nachzukommen.

5. Die Ausstattung von Gerichten mit Personal genügt den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht, wenn sie sich ausschließlich an statistischen Kennzahlen orientiert ohne die tatsächliche Belastung der Gerichte in den Blick zu nehmen. Einen wichtigen Anhaltspunkt dafür bieten die anhängigen Verfahren. Bleiben sie längere Zeit oder gar Jahre unbearbeitet, ist die personelle Ausstattung offensichtlich unzureichend.

6. Die mit der Haftprüfung betrauten Gerichte haben den Grundrechtsschutz der Betroffenen zu verwirklichen. Danach sind Haftentlassungen unvermeidbar, wenn es zu Verfahrensverzögerungen kommt, weil der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt, die Justiz mit den erforderlichen personellen und sächlichen Mitteln auszustatten.